Archäologe legt Fundamente von Lateinschule unter dem Kirchplatz frei.

Der an einen kurzen Kohlestift erinnernde Gegenstand ist nur wenige Zentimeter lang, Dr. Gerard Jentgens hält ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Es ist tatsächlich eine Art Stift, allerdings mindestens eineinhalb Jahrhunderte alt - ein Griffel aus Grafit, mit dem Schüler früher auf eine Schiefertafel schrieben.

Die Mitarbeiter des Archäologen haben den gut erhaltenen Griffel bei Grabungen auf dem Dülmener Kirchplatz der Gemeinde St. Viktor entdeckt, wie auch eine Spielzeug-Murmel, die aus Steinzeug-Keramik gefertigt ist. Benutzt haben beide Gegenstände Absolventen der ehemaligen Lateinschule, die vom Spätmittelalter bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Kirchplatz stand - mitten zwischen den Gräbern des damaligen Kirchfriedhofs.

Jentgens und sein Team gehen seit wenigen Wochen im Schatten des ältesten Dülmener Gotteshauses - die Kirche St. Viktor stammt aus dem achten Jahrhundert - in die Tiefe. Der Grund: Der Platz wird bald komplett neu gestaltet (DZ berichtete). Die bereits angelaufenen Bauarbeiten haben den Landschaftsverband Westfalen- Lippe (LWL) veranlasst, den Archäologen an Stellen, die ohnehin von den Arbeiten betroffen sind, nach den Fundamenten der Lateinschule und auch Gräbern suchen zu lassen. Denn der Kirchplatz war seit dem Frühmittelalter bis ins 19. Jahrhundert auch der Friedhof der Gemeinde St. Viktor - Gebeine aus über einem Jahrtausend liegen unter dem Boden.

Jentgens ist überaus vertraut mit der frühen Dülmener Stadtgeschichte. So entdeckte er hier bereits die ältesten beiden Glockengussgruben Europas. 

Dass er und sein Team nun auf die Fundamente der alten Lateinschule stießen, ist allerdings keine Sensation. Deren Existenz war bekannt. Überrascht haben den Archäologen und Markus Trautmann, den Pfarrdechant von St. Viktor, dass die Fundamente des ehemaligen Gebäudes so dicht unter dem Erdboden lagen - „nur eine Handbreit unter der Grasnabe“, so Trautmann.

Die Lateinschule habe wahrscheinlich über ein Erd- und ein Obergeschoss verfügt, so Jentgens, und sei wohl um die fünf Meter hoch gewesen, über einer Gesamtfläche - und die kennt man natürlich nun genau - von rund acht mal 13,5 Metern.

„Die Lateinschule war primär eine kirchliche Einrichtung“, sagt der Archäologe. Sie habe zuvorderst der Ausbildung künftiger Priester gedient. Aber auch Laien seien hier geschult worden, die ihre klassische Bildung später etwa in Verwaltungen einsetzen konnten. „Das war der Beginn unseres Bildungssystems“, so Jentgens. In der jüngeren Zeit, gemeint sind das 18. Jahrhundert und frühe 19. Jahrhundert, habe es in der Schule einen großen Klassenraum für rund 70 Jungen und zwei kleinere Räume gegeben. Die nächstgelegenen Gräber des damaligen Kirchfriedhofs waren dicht an der Schule, doch die Kinder hätten wohl kein Problem damit gehabt, so der Archäologe: „Das Verhältnis zu Grabstätten war ein ganz anderes als heute.“

Pfarrdechant Trautmann verfolgt die fortlaufenden Grabungen am Gotteshaus mit großem Interesse: „Mir ist wichtig, dass in einer Stadt, von der soviel durch den Zweiten Weltkrieg zerstört worden ist, die Geschichte wieder sichtbar und lebendig wird.“

Das meint der Pfarrer durchaus wörtlich. Er könne sich etwa vorstellen, dass in Zukunft auf dem neugestalteten Platz eine überirdische und partielle Nachbildung des Fundamentverlaufs den Kirchbesuchern und Passanten, die zwischen der Hauptverkehrsstraße und der Fußgängerzone unterwegs sind, vor Augen führen könnten, was (dann wieder) unter dem Erdboden verborgen liegt. Eine solche Entscheidung könne er aber nicht alleine fällen.

 

Bericht und Bilder der Dülmener Zeitung, Christian Besse

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